«Kollektives Experiment im gesellschaftlichen Labor»

Das Hardturm-Areal soll ein attraktives und belebtes Wohnquartier für 1500 Menschen werden. An einzelnen Tagen im Jahr finden hier auch Fussballspiele für bis zu 18'000 Personen statt. Architekt und Stadtentwickler Stefan Kurath über temporäre Freiräume, die Rettung von Erinnerungen und wann die Kuration eines Quartiers Sinn macht.

Wie lange dauert es in der Regel, bis ein neues Areal seine eigene Identität hat?
Das Hardturm-Areal ist ein Spezialfall. Durch das Fussballstadion hat es an mindestens 36 Tagen im Jahr eine nationale und manchmal sogar eine internationale Bedeutung. An matchfreien Tagen oder in der Winterzeit sollte das Quartier aber nicht nur dunkel sein. Diese Spannung ist eine grosse Herausforderung.

Lässt sich eine Quartier-Identität auf der grünen Wiese planen?
Architektur oder Quartiere haben keine Identität. Identität bildet sich im Menschen aus über seine biografische Bindung zum Ort. Wichtig ist, dass das Quartier einen Wiedererkennungswert hat und kein eigenschaftsloser Raum ist. Sehr hilfreich für den Identitätsprozess sind zudem Erinnerungen, die zu einem Quartier bereits vorhanden sind. Je mehr man von einem früheren Stadtleben retten kann, umso besser sind die Berührungspunkte fürs neue Areal.

Ans Hardturmareal haben Tausende Menschen Erinnerungen, insbesondere Fussballfans.
Gewöhnlich haben Nachbarn und Anwohner eine biografische Beziehung zu ihrem Wohnort. Das Hardturm aber ist Teil der Zürcher Identität. Deshalb haben auch alle eine Meinung dazu.

Wie wichtig ist es für die Quartierbelebung, nebst den Fussallmatches weitere Veranstaltungen durchzuführen - wobei ja in der Credit Suisse Arena explizit keine anderen Grossanlässe zulässig sind?
Bei einem Grossevent ist das Quartier belebt, das bringt im Alltag aber nichts. Viele Anwohner fürchten sich vor zu vielen Leuten, zusätzlichem Verkehr und Lärm. Ob es nebst den Fussballspielen noch Events, Märkte und Anlässe verträgt, braucht eine hohe Sensibilität. Rein verkehrstechnisch wäre das Areal geeignet für schweizweite Promotions-Events, doch alles mit kommerziellem Hintergrund birgt Konflikte. Hingegen ist alles gut, was den Bewohnern und Nachbarn dienlich ist. Ein Quartierfest ist somit ein Muss.

Immerhin werden rund 1500 Menschen auf dem Areal leben, es gibt Gewerbe und Ateliers.
Für die Belebung ist es gut, wenn sich die Menschen im Freiraum bewegen. Gewerbe führt zu Laufkundschaft und Interaktionen, auch Restaurants und Cafés werden bei der Grösse dieses Areals funktionieren. Gut für ein Quartier ist zudem, wenn die Leute mit ÖV und Velo unterwegs sind. So verschwinden sie nicht in den Tiefgaragen. Die Voraussetzungen beim Hardturm sind hierfür sehr gut.

Sollte ein Quartier wie das Hardturm kuratiert werden?
Stadtentwicklung ist ein kollektives Experiment im gesellschaftlichen Labor. Man weiss nie, was passiert und muss permanent interagieren. Insbesondere Quartiere mit einem bestimmten Zweck, wie zum Beispiel einem Fussballstadion, benötigen eine gewisse Kuration. Es braucht jemanden, der sich ums Leben und um die Qualität vor Ort kümmert. Das kostet zwar, erhält im Gegenzug jedoch langfristig den Wert des Quartiers. Das ist eine Strategie, die heute jeder Immobilienentwickler befolgen müsste.

Sprechen wir über die Gestaltung der Freiflächen. Sie muss mal Tausenden Fussballfans, mal einzig den Bewohnern gerecht werden.
Das ist eine grosse Spannung. Gestalterisch ist das Areal auf grosse Massen ausgerichtet. Sicherheitstechnisch braucht es das auch. Für die 18'000 Fussballfans braucht es eine starke Bestimmung, wo sie hindurchlaufen, sich aufhalten sollen und wo nicht. Ohne die Menschenströme ist die Fläche jedoch schnell leer, trist und grau. Wo man sich nicht wohl fühlt, hält man sich auch nicht auf. Städtebaulich ist diese Freiraumgestaltung eine grosse Herausforderung.

Wie löst man eine solche Herausforderung?
Alles, was man gemeinschaftlich erbaut, ist identitätsbildend. Deshalb ist es gut, im Freiraum einen Teil unbestimmt zu lassen. Eine Gemeinschaft braucht Freiräume, in denen sie sich produzieren kann. Gerade Architekten und Landschaftsarchitekten stehen dem informellen Gebastel oft kritisch gegenüber. Aber insbesondere für einen Gemeinschaftsbildungsprozess im Quartier sind solche temporären Freiheiten wichtig. Natürlich muss immer alles in einem gewissen Verhältnis stehen. Aber beim Wohnungsbau gibt man den Leuten ja auch nicht vor, wie sie ihre vier Wände während Jahrzehnten möblieren müssen, sondern schafft charakteristische Räume die zum bewohnen einladen. Diese Freiräume sollten übrigens so geplant und genutzt sein, dass auch Folgegenerationen diese Möglichkeiten zur Aneignung noch haben.

Stefan Kurath

Der Schweizer Architekt und Urbanist (44) ist in Thusis (GR) aufgewachsen. Er studierte Architektur in der Schweiz und den Niederlanden und promovierte in Stadtplanung an der HafenCity Universität Hamburg. Er ist Professor an der ZHAW (Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen) und leitet dort mit Regula Iseli das Institut Urban Landscape. Parallel dazu arbeitet er als Architekt in Zürich und in einer Bürogemeinschaft in Graubünden. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen zum Thema Architektur, Städtebau und Innenentwicklung.