Arealentwicklung ist heute komplexer denn je

Auf der Hardturmareal entsteht nicht nur ein neues Fussballstadion für Zürich, sondern ein neues Stück Stadt. Stefan Kurath, Architekt und Stadtentwickler, spricht im Interview über die zunehmende Komplexität von Arealentwicklungen, geglückte und missglückte Projekte und was einen neuen Ort auch für Nicht-Bewohner attraktiv macht.

Herr Kurath, wie unterscheiden sich heutige Arealentwicklungen von früheren?
Bei den Überbauungen in den 1970er-Jahren war oft noch niemand da. Das machte es für die Bauherren unkompliziert, ihre Projekte zu verwirklichen. Zudem wurde bis zu den 90er-Jahren planerisch kaum mitgesprochen, man vertraute den Machern. Anders heute. Arealentwicklungen finden meist in einem gebauten Kontex statt, mit vielen Akteuren und noch mehr Anforderungen. Das macht das Vorgehen komplizierter und bedingt Diplomatie.

Sie verlangen Diplomatie von den Bauherren?
Mit der Haltung, wer zahlt, befiehlt, kann man den Leuten nichts mehr vor die Nase setzen. Spätestens beim Bewilligungs- oder Abstimmungsverfahren bilden sich Widerstände und es gibt Opposition. Deshalb ist in Bezug auf die Nachbarschaft diplomatisches Verhandlungsgeschick gefragt. Es ist wichtig zu verstehen, was die Überbauung für die Anwohner bedeutet und weshalb diese Einsprachen machen.

Auf alle Anliegen der Anwohner einzugehen macht eine Arealentwicklung aber ziemlich aufwändig.
Man muss es heute aufwändig machen! Nur so wird man der zunehmenden Komplexität gerecht. Bei Entwicklungsgebieten, die von bestehenden Quartieren umgeben sind, spielt Nachbarschaft eine grosse Rolle. Ein Mensch hat eine biografische Bindung zum Quartier, das ist ein Teil seiner Identität. Verändert sich etwas am Wohnort, kann das zu Identitätskrisen, Verlustängsten und Widerständen führen. Diese sind nicht immer rational. Deshalb sind Akteursanalysen heute hoch im Kurs. Sie zeigen frühzeitig auf, wer welche Anliegen hat.

Sie plädieren dafür, Anwohner an der Quartierentwicklung partizipieren zu lassen?
Ich sehe grosses Potenzial darin. Wird der juristische Weg eingeschlagen, verzögert sich die Umsetzung schnell um viele Jahre. Insbesondere bei grossen Arealüberbauungen haben die Bauherren zudem auch eine gesellschaftliche Verantwortung.

Wie meinen Sie das?
Meistens wird eine Baustelle über Jahre einfach abgesperrt. Die Anwohner leben aber auch während der Bauzeit vor Ort und wollen nicht jahrelang nichts. Die einfachste Form von Partizipation ist es, wenn Leute sich Räume aneignen können. Mir geht es nicht um Kuschelurbanismus. Gibt man jedoch den Anwohnern einen Raum, den sie temporär nutzen und entwickeln können, wirkt sich das positiv auf die Stimmung wie auch auf die Beziehungen im Quartier aus.

Nennen Sie uns ein paar geglückte Mitwirkungsbeispiele.
Das Sulzer-Areal in Winterthur zum Beispiel. Durch Aktivitäten während der Transformation gelang es insbesondere im Lagerplatz-Areal, die Beziehungen und biografischen Bindungen zum Quartier aufrecht zu erhalten. Mittels guter Angebote fürs Gewerbe und Wohnen wurde ein relativ stabiles Quartierleben erreicht, das weiter transformiert wird. Und bei der Überbauung Kalkbreite wurden bereits vor dem Bau Kollektivgärten realisiert und dadurch die biografische Bindung zum Ort gestärkt. Werden Freiräume bereits während der Bauphase bespielt, belebt das die Nachbarschaft und nach Bauschluss muss kein künstliches Angebot hochgefahren werden.

Gibt es noch andere No Go’s, ausser die Nachbarschaft zu ignorieren?
Zum Beispiel das, was Zombie-Urbanismus genannt wird. Alles ist überdesignt, insbesondere wo man wann was tun muss. Man sieht es zum Beispiel bei der Europa-Allee. Für eine nachhaltige Quartierentwicklung ist das nicht förderlich, da es keine Veränderungen zulässt und die Anwohner sich keinen Raum aneignen können.

Aber ein Quartier – insbesondere, wenn es von sehr vielen Menschen genutzt wird – muss doch gestaltet sein.
Natürlich. Gestaltung bedeutet aber nicht jede Gehfläche und Sitzmöglichkeit so zu definieren, dass man nur da gehen und sitzen kann, wo es erwünscht ist. Bei der Neugestaltung eines bestehenden Quartiers ist es zudem wichtig, Erinnerungen und Spuren aus der Vergangenheit zu bewahren. In Neu-Oerlikon wurde das versucht. Die ehemalige Industrie ist in alten Bauten und Spuren noch erhalten. Radiert man alles weg, findet sich niemand mehr zurecht.

In Zürich-West sind Spuren früherer Zeiten auch gut erkennbar.
Das haben wir teilweise Ursula Koch, der ehemaligen Vorsteherin des Hochbaudepartements, zu verdanken. Sie liess die Investoren nicht einfach machen und widersetzte sich der Öffnung früherer Industriezonen für Büronutzungen. Die Gestaltungspläne wurden von der Stadt Zürich und den Investoren gemeinsam entwickelt und Rahmenbedingungen für den Transformationsprozess festgelegt. Das ist vorbildlich.

Bei neuen Überbauungen mit tollen Plätzen gibt es oft das Phänomen, dass sie unbelebt sind. An was liegt das?
Ob die Anwohner sich einen Ort ohne Berührungsängste aneignen und diesen beleben, hängt von der Konzeption ab. Beim Richti-Areal in Wallisellen und dem Rapid-Areal in Dietikon hat man städtebauliche Projekte mit Plätzen nach Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert realisiert. Dieses Kopieren bedeutet jedoch nicht, dass man automatisch auch das Leben von damals importiert. Eine grosse Auswirkung auf das Leben vor Ort haben ferner die dort angesiedelten Firmen. Sind nur Büromitarbeiter beschäftigt, sieht man tagsüber kaum jemanden. Und dann gibts noch den Tiefgarageneffekt. Die Bewohner fahren mit dem Auto direkt in die Garage, mit dem Lift in die Wohnung, und sind somit ebenfalls unsichtbar.

Sprechen wir über Gewerbe. Welche Arten unterstützen die Belebung im Quartier?
Alle Läden, die es für den täglichen Bedarf braucht, bringen Leben. Also Lebensmittel-Geschäfte, Apotheken, Blumenläden. Was auch immer gut funktioniert, ist der Beauty-Bereich mit Coiffeur-, Nagel-, Kosmetikstudios und so weiter. Sehr gut wirkt sich zudem die Kreativwirtschaft aus. Dazu gehören Gestalter, Designer, Architekten, Planer, Werber, Galeristen und andere. Sie identifizieren sich stärker mit der Umgebung und beteiligen sich deshalb oft an der Belebung von Räumen. Zudem halten sie sich nicht an die offiziellen Bürozeiten und sind ständig vor Ort.

Verschiedene Gewerbe haben unterschiedliche Bedürfnisse. Wie schafft man hierfür beste städtebauliche Voraussetzungen?
Es braucht robuste Räume, die unabhängig vom Inhalt funktionieren. Räume mit Charakter, die jedoch so definiert sind, dass man Ateliers, Gewerbe, eine Autogarage Delikatessenläden bis hin zu Wohnungen unterbringen kann. Robuste Räume garantieren, dass sie trotz Veränderungen auch in zehn Jahren noch nutzbar sind. Für die Kreativwirtschaft braucht es günstige Mieten.

Was macht einen neuen Ort auch für Nicht-Bewohner attraktiv?
Qualitativ gute Angebote wie Restaurants, Cafés oder spezialisierte Läden, wegen denen man extra dorthin geht. Gut funktionieren immer Bibliotheken, Quartier- und Jugendzentren, Sportvereine sowie soziale und kulturelle Institutionen. Auf grösseren Arealen sind auch städtische Anlässe wie zum Beispiel «Food Zürich» realisierbar oder temporäre Geschichten. Letztere geben immer wieder neue Impulse, besonders, wenn sie von anderen Leuten gemacht werden. Performance-Kunst ist ein gutes Mittel, um Leute in den Raum zu holen.

Welche Transformation ist in Sachen Belebung gut geglückt?
Die Kalkbreite. Früher haben sich die Anwohner zum Lochergut und Richtung Langstrasse orientiert. Die Umwandlung begann mit dem Urban Gardening und Veranstaltungen im Rosengarten Haus. Dies führte dazu, dass der Freiraum ohne Anlaufschwierigkeiten belebt war und die Erdgeschossnutzung inklusive Restaurant Bebek vom ersten Tag an funktionierte. Das ist nicht selbstverständlich. Auch das Angebot mit Kita und Geburtshaus ist bereichernd. Zudem gibt es innerhalb des Gebäudes eine grosse räumliche wie auch preisliche Vielfalt, die von der Genossenschaft geprägt ist.

Stefan Kurath

Der Schweizer Architekt und Urbanist (43) ist in Thusis (GR) aufgewachsen. Er studierte Architektur in der Schweiz und den Niederlanden und promovierte in Stadtplanung an der HafenCity Universität Hamburg. Er ist Professor an der ZHAW (Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen) und leitet dort mit Regula Iseli das Institut Urban Landscape. Parallel dazu arbeitet er als Architekt in Zürich und in einer Bürogemeinschaft in Graubünden. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen zum Thema Architektur, Städtebau und Innenentwicklung.

Ein neues Stück Stadt für vielseitige Interessen

Auf dem Hardturm-Areal gestalten private Investoren in enger Partnerschaft mit der Stadt Zürich eine Freifläche von 55'000m2 komplett neu. Es ist eine einmalige Möglichkeit, im aufstrebenden Zürich-West ein zusammenhängendes Stück Quartier zu realisieren. Kernstück ist das Fussballstadion Credit Suisse Arena. Nachdem Vorgängerprojekte aus unterschiedlichen Gründen gescheitert waren, führte die Stadt Zürich einen Investorenwettbewerb durch. Das Projekt Ensemble wurde von einer namhaft zusammengesetzten Fachjury einstimmig zum Siegerprojekt gekürt. Des Gesamtprojekt entspricht bestmöglich den Interessen des Fussballs, dem Bau von günstigem Wohnraum, einem attraktiven Quartierleben und einer vernünftigen Stadtentwicklung. Ensemble nimmt zudem Rücksicht auf Nachbarschaft, Umgebung und Umwelt. Die Stadtzürcher Stimmbevölkerung hat dem Projekt am 25. November 2018 klar zugestimmt.